Gene für Depressionen bei allen Ethnien identifiziert
Bonner Forschende an weltweiter Studie beteiligt
Bonn, 15. Januar – Ein internationales Forschungsteam unter Leitung der Universität Edinburgh und des King’s College London sowie mit Beteiligung des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim sowie des Universitätsklinikums Bonn (UKB) und der Universität Bonn hat in einer weltweiten Studie neue genetische Risikofaktoren für Depressionen über alle ethnischen Gruppen hinweg identifiziert. Die bislang größte genetische Untersuchung dieser Art entdeckte rund 300 bisher unbekannte genetische Zusammenhänge mit der Erkrankung, was neue Perspektiven für Diagnose und Behandlung eröffnet. Die Daten von mehr als fünf Millionen Menschen aus 29 Ländern bildeten die Grundlage für die Ergebnisse, die nun in der Fachzeitschrift „Cell“ veröffentlicht wurden.
Die weltweit größte und ethnisch vielfältigste genetische Studie zu Depressionen, die jemals durchgeführt wurde, hat rund 300 bisher unbekannte Zusammenhänge genetischer Variationen – kleine Unterschiede in der DNA-Sequenz, aus der ein Gen besteht – mit der Krankheit aufgedeckt. Zum ersten Mal wurden damit neue genetische Risikofaktoren für Depressionen über alle großen Weltbevölkerungen hinweg identifiziert. 100 der neu entdeckten genetischen Variationen wurden durch die Einbeziehung von Menschen afrikanischer, ostasiatischer, hispanischer und südasiatischer Abstammung identifiziert.
Genauere Vorhersage des Depressionsrisikos
Die bisherige Forschung zur Genetik der Depression konzentrierte sich in erster Linie auf Bevölkerungsgruppen, die ursprünglich von in Europa lebenden Menschen abstammen. Therapien, die auf der Grundlage genetischer Ansätze entwickelt werden, sind daher bei anderen Ethnien möglicherweise nicht wirksam, was derzeit bestehende gesundheitliche Ungleichheiten noch vergrößert. Jede einzelne genetische Variante hat einen sehr geringen Einfluss auf das Gesamtrisiko an einer Depression zu erkranken. Wenn eine Person mehrere Varianten hat, können sich diese kleinen Auswirkungen summieren und das Risiko erhöhen. Das Forschungsteam war in der Lage, das Depressionsrisiko einer Person genauer vorherzusagen, indem es die neu identifizierten Varianten berücksichtigte.
Rund 300 unbekannte genetische Zusammenhänge aufgedeckt
Das internationale Team von Forschenden untersuchte die genetischen Daten von mehr als fünf Millionen Menschen in 29 Ländern weltweit. Jede vierte Person, die in die Studie einbezogen wurde, hatte nicht-europäische Vorfahren. Das Forschungsteam identifizierte insgesamt 700 Variationen im genetischen Code von Personen, die mit der Entwicklung von Depressionen in Verbindung gebracht werden. Fast die Hälfte dieser Variationen, die sich auf 308 spezifische Gene beziehen, sind zuvor noch nie mit der Krankheit in Verbindung gebracht worden. Die identifizierten genetischen Varianten wurden mit Neuronen, einer Art von Gehirnzellen, in verschiedenen Hirnregionen in Verbindung gebracht, einschließlich Regionen, die Emotionen steuern.
Neue Ansätze für die Behandlung von Depressionen möglich
Die Ergebnisse bieten bislang unbekannte Einblicke in die Ursachen der Depression im Gehirn und könnten neue Ansätze in der Behandlung ermöglichen. Das Forschungsteam hebt die bereits vorhandenen Medikamente Pregabalin und Modafinil hervor, die zur Behandlung chronischer Schmerzen beziehungsweise der Schlafstörung Narkolepsie eingesetzt werden und auf der Grundlage der Studienergebnisse möglicherweise auch in der Behandlung von Depressionen wirksam sein könnten. Das Team weist jedoch darauf hin, dass weitere Studien und klinische Versuche erforderlich sind, um das Potenzial der Medikamente bei Patienten mit Depressionen zu erforschen.
Depressionen in hohem Maße polygen
„Es gibt große Lücken in unserem Verständnis der klinischen Depression, die die Möglichkeiten zur Verbesserung der Therapieergebnisse für die Betroffenen einschränken. Größere und weltweit repräsentative Studien sind unerlässlich, um die Erkenntnisse zu gewinnen, die für die Entwicklung neuer und besserer Therapien und für die Vorbeugung von Krankheiten bei Menschen mit einem höheren Erkrankungsrisiko erforderlich sind“, sagt Prof. Andrew McIntosh, Co-Leiter der Studie und Professor am Zentrum für klinische Hirnforschung der Universität Edinburgh.
„Depressionen sind eine weit verbreitete Erkrankung, und wir müssen noch viel über ihre biologischen Grundlagen lernen. In unserer Studie wurden Hunderte von zusätzlichen genetischen Varianten identifiziert, die bei Depressionen eine Rolle spielen. Diese Ergebnisse zeigen, dass Depressionen in hohem Maße polygen sind, und eröffnen Wege, um diese Erkenntnisse in eine bessere Versorgung von Menschen mit Depressionen umzusetzen“, sagt Cathryn Lewis, Co-Leiterin der Studie und Professorin am Institute of Psychiatry, Psychology & Neuroscience am King’s College London.
„Die vorliegende Studie stellt einen bedeutenden Fortschritt dar. Dennoch ist es notwendig, weiterhin genetische Varianten zu identifizieren, die mit psychiatrischen Erkrankungen in weltweiten Populationen assoziiert sind. Um die Lücke zwischen genetischen Entdeckungen und ihrer klinischen Umsetzung zu schließen, wollen wir maschinelle Lernansätze entwickeln und anwenden, um in multivariaten Ansätzen eine Vielzahl polygener Prädiktoren für die Vorhersage von psychischen Gesundheitszuständen, und dem Ansprechen auf bestimmte Behandlungen zu nutzen“, ergänzt Dr. Fabian Streit, Mitarbeiter am Hector Institut für Künstliche Intelligenz in der Psychiatrie am ZI und einer der Erstautoren der Studie.
„Die Identifikation von genetischen Risikofaktoren für psychische Erkrankungen wie die Depression stellt die Grundlage für ein besseres Verständnis der zugrundeliegenden pathophysiologischen Veränderungen dieser Erkrankungen dar. Somit sind wir mit dieser Studie diesem Verständnis und damit vielleicht ultimativ auch den Möglichkeiten zu einer effizienteren und personalisierteren Behandlung als aktuell möglich einen großen Schritt nähergekommen“, fasst Prof. Eva-Christina Schulte von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am UKB zusammen. Sie ist auch Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich (TRA) „Life and Health“ der Universität Bonn. Neben ihr waren in Bonn noch Forschende vom Institut für Humangenetik am UKB – unter anderem Prof. Andreas Forstner und Prof. Markus Nöthen – beteiligt.
Förderung: An dem Forschungsteam des Psychiatric Genomics Consortiums waren Wissenschaftler aus allen Kontinenten beteiligt, unter anderem aus Südafrika, Brasilien, Mexiko, den USA, Australien, Taiwan, China und Deutschland. Die Studie, die neben dem National Institutes of Health (NIH)/USA, wurde unter anderem durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert.
Publikation: Genome-wide study of half a million individuals with major depression identifies 697 independent associations, infers causal neuronal subtypes and biological targets for novel pharmacotherapies; Cell, DOI: 10.1016/j.cell.2024.12.002
https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(24)01415-6
Wissenschaftlicher Kontakt:
Prof. Eva-Christina Schulte
Leiterin der Sektion „Psychiatrische Genomik und Multiomik“
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Bonn (UKB)
TRA „Life and Health“, Universität Bonn
Pressekontakt:
Dr. Inka Väth
stellv. Pressesprecherin am Universitätsklinikum Bonn (UKB)
Stabsstelle Kommunikation und Medien am Universitätsklinikum Bonn
Telefon: (+49) 228 287-10596
E-Mail: inka.vaeth@ukbonn.de
Zum Universitätsklinikum Bonn: Im UKB finden pro Jahr etwa 500.000 Behandlungen von Patient*innen statt, es sind ca. 9.500 Mitarbeiter*innen beschäftigt und die Bilanzsumme beträgt 1,8 Mrd. Euro. Neben den 3.500 Medizin- und Zahnmedizin-Studierenden werden pro Jahr 550 Personen in zahlreichen Gesundheitsberufen ausgebildet. Das UKB steht in der Focus-Klinikliste auf Platz 1 unter den Universitätsklinika (UK) in NRW, hatte in 2023 in der Forschung über 100 Mio. Drittmittel und weist den zweithöchsten Case Mix Index (Fallschweregrad) in Deutschland auf. Das F.A.Z.-Institut hat das UKB mit Platz 1 unter den Uniklinika in der Kategorie „Deutschlands Ausbildungs-Champions 2024“ ausgezeichnet.