Verlängerte Narkose verändert Hirnverknüpfungen
Forscher der Columbia University und der Universität Bonn entdecken bei Mäusen eine veränderte Hirnkonnektivität
Das medizinisch induzierte Koma („Narkose“) stellt ein lebensrettendes Verfahren dar, das jedes Jahr weltweit bei Millionen von Patienten auf Intensivstationen durchgeführt wird. Während der COVID-19-Pandemie ist das intensivmedizinisch unerlässliche Verfahren noch deutlicher in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Abhängig von der Schwere der Erkrankung ist es notwendig, eine Narkose Tage bis Wochen aufrechtzuerhalten. Intensivmedizinische Patienten aber haben nach dem Aufwachen oft Denk- und Gedächtnisschwierigkeiten, sodass Angehörige immer wieder berichten, dass die Patienten nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht mehr dieselben waren. Durch hochauflösende Mikroskopie im lebenden Gehirn haben Forscher der Columbia University in den USA und der Universität Bonn nun eine Verbindung dieser koma-assoziierten neurokognitiven Defizite und Veränderungen der strukturellen Verknüpfungen des Gehirns identifiziert. Die Studie ist in der Fachzeitschrift PNAS erschienen.
„Es ist seit langem bekannt, dass Überlebende der Intensivstation oft an dauerhaften Beeinträchtigungen wie zum Beispiel Verwirrung oder Gedächtnisverlust leiden, die sich über Monate bis hin zu Jahren ziehen können“, betont Hauptautor Dr. Michael Wenzel. Er führte die Studie als Postdoktorand an der Columbia University durch und ist nun als Arzt und Forscher in der Klinik für Epileptologie des Universitätsklinikums Bonn tätig.
„Bis jetzt wurden trotz der zahlreichen Hinweise darauf, dass insbesondere auch im Erwachsenenalter ein Zusammenhang zwischen verlängerter Anästhesie und Einschränkung von Kognition besteht, die direkten Auswirkungen auf die neuronalen Verbindungen nicht untersucht“, sagt Rafael Yuste, Professor für Biologische Wissenschaften an der Columbia University. „Das liegt daran, dass es schwierig ist, die Gehirne von Patienten mit einer Auflösung zu untersuchen, die hoch genug ist, die Verbindungen zwischen einzelnen Neuronen überwachen zu können.“
Um dieses Problem zu umgehen, entwickelten die Forscher eine experimentelle Plattform in Mäusen, mit der sie Verbindungen zwischen Neuronen („Synapsen“) während verlängerter Narkose und damit verbundene kognitive Auswirkungen untersuchen konnten. Dabei griffen sie auf eigene Erfahrungen von Michael Wenzel in der Neurointensivmedizin zurück. Sie führten eine kontinuierliche Anästhesie für bis zu 40 Stunden durch – ein Vielfaches länger als die bisher längste Tierstudie (rund sechs Stunden). Mithilfe der Zwei-Photonen-Mikroskopie konnten die Forscher Synapsen im lebenden Organismus mit einer Auflösung im Bereich von tausendstel Millimetern (Mikrometer) sichtbar machen und für viele Tage verfolgen – vor, während und nach Narkose.
Veränderungen der synaptischen Architektur unabhängig vom Alter
Entgegen der herrschenden Vorstellung, dass Verbindungen zwischen Neuronen im erwachsenen Gehirn während einer Narkose stabil bleiben, fanden die Forscher heraus, dass eine längere Narkose die synaptische Architektur des Gehirns unabhängig vom Alter signifikant verändert. „Unsere Ergebnisse sind ein Signal insbesondere an die Intensivmedizin, da sie einen physikalischen Zusammenhang zwischen kognitiver Beeinträchtigung und längerem medizinisch induziertem Koma herstellen“, betont Michael Wenzel.
Da es sich bei dieser Studie um eine Pilotstudie in Mäusen handelt, sind weitere Untersuchungen erforderlich, so die Forscher. Es sei wichtig zu wissen, ob bestimmte Anästhetika-Kombinationen mit zunehmender Narkosedauer vorteilhafter für Denkvermögen und Alltagsfähigkeit nach dem Aufenthalt auf Intensivstation sind als andere. Darüber hinaus gebe es kaum standardisierte Unterstützungsmaßnahmen zur Erhaltung einer gesunden Hirnstruktur während Langzeitanästhesie, im Gegensatz zu täglichen physiotherapeutischen Maßnahmen, die wichtig sind, um einer Gelenkversteifung und Muskelschwund entgegenzuwirken.
„Wir sind uns darüber bewusst, dass die Anästhesie ein lebensrettendes Verfahren ist“, sagt Wenzel. „Die Verfeinerung der Behandlungspläne von Patienten und die Entwicklung unterstützender Therapien aber, die das Gehirn während einer längeren Anästhesie in Form halten, würden das Outcome für diejenigen, deren Leben gerettet wird, deren Lebensqualität aber beeinträchtigt bleibt, erheblich verbessern.“
Förderung:
Die Studie wurde durch das National Eye Institute, das National Institute of Mental Health, das Hertie Exzellenznetzwerk für klinische Neurowissenschaften und das Donostia International Physics Center gefördert.
Publikation: Michael Wenzel, Alexander Leunig, Shuting Han, Darcy S. Peterka, Rafael Yuste: Prolonged anesthesia alters brain synaptic architecture. PNAS; DOI: 10.1073/pnas.2023676118
Link zur Studie: https://www.pnas.org/content/118/7/e2023676118
Kontakt:
Dr. Michael Wenzel
Klinik für Epileptologie
Universität Bonn, Universitätsklinikum Bonn
E-Mail: michael.wenzel@ukbonn.de
Bild oben: Das medizinisch induzierte Koma ist ein lebensrettendes Verfahren dar, das jedes Jahr weltweit bei Millionen von Patienten auf Intensivstationen durchgeführt wird.
Bildnachweis: © Michael Wenzel
https://cams.ukb.uni-bonn.de/presse/pm-048-2021/images/ICU-Wenzel.jpg