Früh geborenen Nervenzellen stehen viele Wege offen
Der Geburtszeitpunkt von Neuronen entscheidet, was aus ihnen werden kann, zeigt eine Studie der Uni Bonn
Bei den Royals ist die Sache klar: Das erste Kind der Monarchin oder des Monarchen erbt die Krone. Später geborene Geschwister müssen mit einem weniger glamourösen Beruf Vorlieb nehmen. Bei manchen Nervenzellen im Gehirn ist das ganz ähnlich. Bei ihnen entscheidet zwar nicht die Reihenfolge ihrer Geburt, aber zumindest der Zeitpunkt ihrer Entstehung über ihre weitere Karriere. Das zeigt eine aktuelle Studie am Institut für Rekonstruktive Neurobiologie der Universität Bonn. Die Ergebnisse wurden an Mäusen gewonnen; inwieweit sie sich auf den Menschen übertragen lassen, ist daher noch offen. Sie sind nun in der Zeitschrift eNeuro erschienen.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in ihrer Studie einen spezifischen Typ von Zellen untersucht: die dopaminergen Neurone im Mittelhirn. Ihren etwas sperrigen Namen verdanken sie der Fähigkeit, Dopamin zu produzieren. Der Botenstoff spielt bei der Signalübertragung zwischen bestimmten Nervenzellen eine wesentliche Rolle. Der Verlust dopaminerger Neurone kann daher etwa zur Parkinson-Erkrankung mit ihren charakteristischen Defiziten bei Bewegungsabläufen führen.
Die dopaminergen Neurone im Mittelhirn sind nicht alle gleich. „Wir kennen heute eine ganze Reihe von unterschiedlichen Typen, die sehr wahrscheinlich alle spezifische Aufgaben im Gehirn erfüllen“, erklärt Prof. Dr. Sandra Blaess vom Institut für Rekonstruktive Neurobiologie. „Sie entsenden sehr lange Nervenfasern, Axone genannt, in verschiedene Hirnbereiche. Über diese Fasern transportieren sie unter anderem Dopamin in die jeweilige Zielregion.“ Dennoch stammen die meisten dieser Typen vermutlich von denselben Vorläuferzellen ab. „Wir wollten wissen, wie sich aus diesen Vorläufern die verschiedenen Gruppen dopaminerger Zellen entwickeln, ohne die das Gehirn nicht funktionieren würde.“
Entstehungszeitpunkt bestimmt Karriereweg
Von anderen Nervenzellen weiß man schon länger, dass es vom Zeitpunkt ihrer Entstehung abhängt, welche Karriere sie einschlagen. „Wir haben untersucht, ob das bei den dopaminergen Neuronen ebenfalls der Fall ist“, sagt Alessandro Petese, der in der Arbeitsgruppe von Prof. Blaess promoviert. „In Mäusen dauert es vier bis fünf Tage, bis sich sämtliche Vorläuferzellen zu dopaminergen Neuronen umgewandelt haben. Wir wollten wissen: Unterscheiden sich die Neurone, die an Tag eins entstehen, von denen, die sich an Tag zwei, drei oder vier bilden.“
Dazu markierten die Forschenden die Vorläuferzellen zu verschiedenen Zeiten so, dass sämtliche Neurone, die in den Folgetagen aus diesen gefärbten Vorläuferzellen hervorgingen, unter dem Mikroskop grün aufleuchteten. Diejenigen Nervenzellen, die bereits zuvor aus ungefärbten Vorläufern entstanden waren, blieben dagegen dunkel. „Auf diese Weise haben wir festgestellt, dass früh geborene Zellen sich noch in sämtliche Typen von dopaminergen Neurone im Mittelhirn entwickeln können“, sagt Blaess‘ Mitarbeiterin Franca Fries. Bildlich gesprochen, können diese Zellen also noch sehr unterschiedliche Karrierewege beschreiten. „Je später sie jedoch geboren werden, desto mehr verengen sich ihre Möglichkeiten. Sie werden also immer spezialisierter.“ An Tag vier der Differenzierungsphase erreichte dieser Prozess seinen Höhepunkt: dopaminerge Neuronen, die an diesem Tag entstanden, gehörten nur zu einigen wenigen Subtypen.
Grundlagenforschung mit Relevanz für die Praxis
Die Arbeitsgruppe will nun untersuchen, welche Signale es sind, die die Vorläuferzellen mehr und mehr in eine bestimmte Richtung zwingen. „In der rekonstruktiven Neurobiologie versucht man heute, Neuronen aus Stammzellen herzustellen“, sagt Blaess, die auch Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich „Leben und Gesundheit“ an der Universität Bonn ist. „Denn dann lassen sich im Labor gezielt Nervenzelltypen nachzüchten, mit denen man den Verlust der Zellen, wie er etwa in der Parkinson-Erkrankung auftritt, möglicherweise beheben könnte.“ Dazu ist es wichtig, die Prozesse zu verstehen, die bei der natürlichen Differenzierung stattfinden.
Die Ergebnisse aus der Studie könnten es zudem ermöglichen, in Mäusen gezielt bestimmte Typen dopaminerger Zellen auszuschalten. So lassen sich eventuell neue Einblicke in die Mechanismen verschiedener Krankheiten gewinnen, in denen Veränderungen im dopaminergen System eine Rolle spielen – von der Depression über die Schizophrenie bis hin zur Parkinson-Erkrankung.
Förderung:
Die Studie wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und das Maria von Linden-Programm der Universität Bonn gefördert.
Publikation:
Alessandro Petese, Franca L. Fries, Bianca Broske, Ralf Stumm und Sandra Blaess: Lineage analysis of Cxcr4-expressing cells in the developing midbrain suggests that progressive competence restriction in dopaminergic progenitor cells contributes to the establishment of dopaminergic neuronal diversity; eNeuro; DOI: https://doi.org/10.1523/ENEURO.0052-22.2022
Bildmaterial:
Bildunterschrift: Die Rotfärbung macht sämtliche dopaminergen Neuronen des Mittelhirns einer Maus sichtbar. Grün leuchten dagegen nur diejenigen dopaminergen Nervenzellen auf, die relativ spät in der Embryonalentwicklung entstanden sind. Bildnachweis: Uni Bonn / Alessandro PeteseDer Abdruck im Zusammenhang mit der Nachricht ist kostenlos, dabei ist der angegebene Bildautor zu nennen. Kontakt:
Prof. Dr. Sandra Blaess Neurodevelopmental Genetics Institut für Rekonstruktive Neurobiologie Universitätsklinkum Bonn Tel. +49-228-6885540 E-Mail: sandra.blaess@uni-bonn.de
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Zum Universitätsklinikum Bonn: Im UKB werden pro Jahr über 400.000 Patient*innen betreut, es sind 8.300 Mitarbeiter*innen beschäftigt und die Bilanzsumme beträgt 1,3 Mrd. Euro. Neben den über 3.300 Medizin- und Zahnmedizin-Studierenden werden pro Jahr rund 600 junge Menschen in anderen Gesundheitsberufen ausgebildet. Das UKB steht im Wissenschafts-Ranking auf Platz 1 unter den Universitätsklinika (UK) in NRW, weist den dritthöchsten Case Mix Index (Fallschweregrad) in Deutschland auf und hatte 2020 als einziges der 35 deutschen Universitätsklinika einen Leistungszuwachs und die einzige positive Jahresbilanz aller Universitätsklinika in NRW.