Über 500 Diagnosen durch genetische Reanalyse
Universitätsklinikum Bonn an europäischer Studie zur Diagnose seltener Erkrankungen beteiligt
Bonn, 17. Januar – Die Ursache für seltene, erblich bedingte Erkrankungen zu finden, ist häufig schwierig. Durch neue genetische Forschungsansätze haben jetzt jedoch mehr als 500 Patient*innen eine Diagnose für ihre seltene, ungeklärte Erkrankung erhalten. Dazu gehören Menschen mit neurologischen Störungen, schweren geistigen Beeinträchtigungen, Muskelerkrankungen und Verdacht auf erbliche Tumor-Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts. Die Diagnosen wurden durch eine Reanalyse der genetischen Daten von einem umfassenden europäischen Forschungsteam unter der Leitung von Forschenden des Radboud University Medical Center Nijmegen in den Niederlanden, der Universität Tübingen und des National Center for Genomic Analysis in Barcelona ermöglicht, an der auch das Universitätsklinikum Bonn (UKB) beteiligt war. Die Arbeit ist nun in der renommierten Fachzeitschrift „Nature Medicine“ erschienen.
Eine Krankheit gilt als selten, wenn weniger als 50 von 100.000 Menschen davon betroffen sind. Von den mehr als 6.000 seltenen Erkrankungen, die bisher bekannt sind, haben mindestens 70 Prozent eine genetische Ursache. Da diese Krankheiten so selten sind, ist es jedoch schwierig, die genaue Ursache im Erbgut zu bestimmen.
Neue Analyse des Erbguts von über 6.000 Betroffenen
Ein großes europäisches Forschungsteam hat nun aber versucht, die genetische Ursache der seltenen Erkrankung zu identifizieren, in dem eine sehr große Zahl von Patient*innen genetisch untersucht wurde. Dafür wurden die Daten des Erbguts (Genoms) von insgesamt über 6.400 Betroffenen und rund 3.200 nicht-betroffenen Familienmitgliedern aus Europa umfassend untersucht. Die Forschenden analysierten die genetischen Daten mit neusten Ansätzen, um möglichst viele Diagnosen stellen zu können. Dafür mussten die Analysemethode und die Auswertkriterien zwischen den Krankheitsbildern und Zentren harmonisiert werden..
Diese großangelegte Untersuchung wurde durch Solve-RD („solving the unsolved rare diseases“) ermöglicht – eine große europäische Zusammenarbeit, an der 300 Forschende aus zwölf europäischen Ländern und aus Kanada beteiligt waren. Die Patientenkohorten und das Fachwissen wurden von mehreren Europäischen Referenz-Nnetzwerken (ERN) bereitgestellt, die sich auf bestimmte seltene Krankheiten konzentrieren. Das Universitätsklinikum Bonn gehört zu den Gründungsmitgliedern des ERN GENTURIS, das sich mit Tumorrisiko-Syndromen befasst, und trug vor allem zur genetischen Analyse von Patient*innen mit einer vermuteten erblichen Form von Darmtumoren (Polypenerkrankung oder Darmkrebs) bei.
Über 500 Diagnosen aufgeklärt
Es zeigte sich: Durch die umfassende Analyse konnte bei über 500 Patient*innen und ihren Familien mit seltener Erkrankung eine klare genetische Diagnose gestellt werden. Für 15 Prozent dieser Patienten bestehen durch die geklärte Diagnose medizinische Handlungsmöglichkeiten, insbesondere neue Behandlungsoptionen und vorbeugende Maßnahmen – in anderen Fällen verschafft die Diagnose zumindest Klarheit. „Die durch unsere großangelegten Reanalyse gestellten Diagnosen helfen insbesondere den Familienangehörigen, die ihr eigenes Erkrankungsrisiko durch genetische Testung nun viel präziser ermitteln lassen können“, erklärt Anna Sommer, Doktorandin am Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Bonn und Mit-Erstautorin der Publikation. „Unter anderem konnten wir auch eine neue Genotyp-Phänotyp-Assoziation herstellen, die dazu beitragen könnte, die zukünftige Diagnostik zu verbessern.“
„Insbesondere hat sich gezeigt, dass die erneute Analyse bereits vorhandener genetischer Daten mit neuen Methoden und großen kombinierten Patientenkohorten diagnostische Vorteile bringt“, ergänzt Stefan Aretz, Professor für die Genetik erblicher Tumorsyndrome und Leiter des ERN GENTURIS Solve-RD-Teams in Bonn, und lobt auch die internationale Zusammenarbeit: „Das Projekt ist ein großer Erfolg in Bezug auf die internationale Zusammenarbeit sowie die standardisierte Datenerhebung, -analyse und –auswertung.“ Viele logistische Herausforderungen konnten bewältigt werden, auch wenn zahlreiche nationale Gesetze und Vorschriften beachtet werden mussten. Dank dieses Netzwerks aus Forschenden spielt nun weniger eine Rolle, ob Betroffene mit einer seltenen Erkrankung in den Niederlanden, Deutschland oder Frankreich behandelt werden: Die Methoden zur Diagnosestellung haben sich angeglichen.
Mit ERDERA Forschung zu seltenen Erkrankungen verstärken
Das Solve-RD-Projekt bietet einen strukturierten Ansatz zur Diagnose, Vorsorge und potenziellen Behandlung seltener Krankheiten. Hierdurch können die Analysen durch Expert*innen aus verschiedenen Bereichen, wie zum Beispiel der medizinischen Genetik und der Datenwissenschaft, überprüft werden, sodass sich die diagnostische Genauigkeit erhöht. Der Ansatz wird durch die European Rare Disease Research Alliance (ERDERA) erweitert, eine neue und erweiterte Zusammenarbeit mit Koordinator*innen aus Paris und führenden Forschenden von Solve-RD: Durch die Sammlung von Daten aus einem breiteren Patientenkreis und die Zusammenarbeit mit weiteren europäischen medizinischen Zentren möchte ERDERA Diagnosen für diejenigen anbieten, die bisher nicht diagnostiziert wurden – und so die Forschung zu seltenen Krankheiten verbessern.
Im Rahmen von ERDERA wird das etablierte klinische Forschungs-Netzwerk („Clinical Research Network“) mit enger Zusammenarbeit innerhalb Europas weiterentwickelt. Dazu gehört die Ausweitung der Reanalyse von 10.000 auf über 100.000 Datensätze zu seltenen Krankheiten und die Abdeckung eines breiteren Krankheits-Spektrums. Das Projekt legt den Schwerpunkt auf den Einsatz modernster Techniken wie die Long-Read-Genom-Sequenzierung, die optische Genomkartierung und die RNA-Sequenzierung, um die Diagnose ungeklärter seltener Erkrankungen zu beschleunigen.
Publikation: Steven Laurie, Wouter Steyaert, Elke de Boer, Kiran Polavarapu, Nika Schuermans, Anna K. Sommer, […], Katja Lohmann, Richarda M. de Voer, Ana Töpf, Lisenka E.L.M. Vissers, Sergi Beltran, Alexander Hoischen Titel: Genomic Reanalysis of a Pan-European Rare Disease Resource Yields New Diagnoses
DOI: 10.1038/s41591-024-03420-w
Link: https://www.nature.com/articles/s41591-024-03420-w
Wissenschaftlicher Kontakt:
Prof. Dr. Stefan Aretz
Institut für Humangenetik
Universitätsklinikum Bonn
Zentrum für erbliche Tumorerkrankungen
ERN GENTURIS, DRN ETS
TRA „Life & Health“, Universität Bonn
Telefon. + 49 (0) 228 28751009
E-Mail: Stefan.Aretz@uni-bonn.de
Anna Katharina Sommer
Doktorandin am Institut für Humangenetik
Universitätsklinikum Bonn
E-Mail: anna_katharina.sommer@ukbonn.de
Pressekontakt:
Julia Weber
Pressereferentin und Medizinredakteurin
Stabsstelle Kommunikation und Medien am Universitätsklinikum Bonn
Telefon: (+49) 228 287-10469
E-Mail: julia.weber@ukbonn.de
Zum Universitätsklinikum Bonn: Im UKB finden pro Jahr etwa 500.000 Behandlungen von Patient*innen statt, es sind ca. 9.500 Mitarbeiter*innen beschäftigt und die Bilanzsumme beträgt 1,8 Mrd. Euro. Neben den 3.500 Medizin- und Zahnmedizin-Studierenden werden pro Jahr 550 Personen in zahlreichen Gesundheitsberufen ausgebildet. Das UKB steht in der Focus-Klinikliste auf Platz 1 unter den Universitätsklinika (UK) in NRW, hatte in 2023 in der Forschung über 100 Mio. Drittmittel und weist den zweithöchsten Case Mix Index (Fallschweregrad) in Deutschland auf. Das F.A.Z.-Institut hat das UKB mit Platz 1 unter den Uniklinika in der Kategorie „Deutschlands Ausbildungs-Champions 2024“ ausgezeichnet.